Herscht 07769, eine Inszenierung des Theaters Rudolstadt nach dem gleichnamigen Buch des Ungarn László Krasznahorkai (Verlagswebseite mit Leseprobe), von dem ich noch nie gehört hatte und in die wir, das muss ich hinzuschreiben, eher zufällig kamen, einzig weil auf der Facebookseite des Rudolstadt-Festivals der Hinweis "letzte Vorstellung" stand und "zum Sonderpreis", und dass man günstiger nicht an das Highligt der Saison komme, dass es sich lohne und man ja danach zum Festival gehen könne, es gab noch Karten, und so gingen wir am Vorabend des Festivals ins Theater, und sowohl Inszenierung wie auch Buch, von dem ich mir zumindest eine Leseprobe anschaute, erwiesen sich als Glücksfall sie kennenzulernen,
Florian Herscht mit Physiklehrer Adrian Koch |
das Buch des ungarischen Autors, über das er einst sagte "Wenn wir etwas wichtiges mitzuteilen haben, ist keine Zeit für Punkte", ist dann tatsächlich ohne Punkte oder Absätze geschrieben, so wie ich das mal in diesem Text selbst versuche, was für den Leser, der gewohnt ist, dass ein durch solche Unterbrechungen gegliederter Text dem Auge einen Anhaltspunkt zum kurzen Innehalten bietet, zum Ausruhen oder zur Leseunterbrechung, einen sehr starken Sog entfaltet, was bei der richtigen Reihenfolge, zuerst das Buch zu lesen und dann das Theaterstück auf der Bühne (oder als Film) zu sehen, durchaus eine Erwartungshaltung geweckt hätte, also zu sehen, wie denn dieser kontinuierliche Textfluss ins Theaterstück hinein umgesetzt und weitergeführt werden würde, wir waren frei davon und erfuhren erst aus dem Programmheft und später aus der Leseprobe davon, und, ja, das funktionierte, auch wenn ein Theaterstück (selbst wenn es wie in Rudolstadt mit einem einzigen Bühnenbild auskommt) zwangsläufig kurze Unterbrechungen hat, sei es durch unterschiedliche Auftritte,
sei es durch die Pause, nach der das Stück nochmal gehörig an Fahrt gewann, als es nicht nur um erdachte Weltuntergangsphantasien ging, sondern Parallelen zur aktuellen Zeit erkennbar wurden, der Hauptheld Florian Herscht ist dabei als eine Figur ähnlich des Simplizissimus angelegt, die Handlung des Stückes erinnert an Biedermann und die Brandstifter, Hauptheld ist Florian Herscht, ein Waisenjunge mit einer teils kindlichen Naivität, teils wissenden Weitsicht, der von seinem Boss, einem cholerischem Anführer einer Nazitruppe und zugleich Liebhaber der Musik von, nein, nicht etwa von Richard Wagner, sondern von Johann Sebastian Bach, ausgenutzt und immer wieder gedemütigt wird, Herscht also erfuhr von seinem Physiklehrer etwas über Quantentheorie, Antimaterie, Materie und deren gegenseitige Auslöschung, daraus errechnete er ein Weltuntergangsszenario, schreibt Briefe an Angela Merkel (die als das Buch entstand noch Bundeskanzlerin war), als Physikerin muss sie doch die Gefahr verstehen und sofort den nationalen Sicherheitsrat einberufen, zugleich tauchen reale Gefahren auf, Wölfe werden gesichtet, und die Bevölkerung weiß nicht, was schlimmer ist, "darauf zu warten, dass sie heulen oder sie heulen zu hören und nichts geschieht", für den Nazi ist dagen vor allem ein Sakrileg, dass ausgerechnet an Gedenkstätten für Bach, den großen deutschen Musiker, Wolf-Grafittis auftauchen, die diese Stätten entweihen, dieses nur subtile Bedrohungsszenario wandelt sich im zweiten Teil in ein reales, als an der B 88 ("unsere Straße" sagen die Nazis im Stück zur Hauptstraße des thüringischen Ortes Kana) eine Tankstelle in Flammen aufgeht und die beiden Betreiber, ein ausländisches Paar, dabei ums Leben kommt, später stellen sich die Nazis als Brandstifter heraus, die von den Biedermännern im Ort lange nicht als solche erkannt wurden ("was ist nur aus unserem Thüringen geworden"), mit erstaunlicher Aktualität, wobei es, selbst wenn es beim Schreiben des Stücks noch keinen AfD-Landrat gab, doch bereits die 2019er Landtagswahl mit einer starken AfD und einem von ihnen mitgewähltem Ministerpräsidenten gab, Florian Herscht erkennt auf einem Video Leute aus der Nazitruppe als die Täter und vollzieht eine Wandlung, reißt sich, der Häutung der Puppe eines Schmetterlings gleich, seinen Blaumann vom Leib und wird zum blutbeschmierten Rächer, Bibliothekarin Sybille Ringer, eine der Vertrauten Herschts, hat ein Banner "Kana ist bunt" in der Hand, während Ihr Mann Mark Ringer "man kann doch nicht einfach nur demonstrieren, man muss doch was tun" ruft, am Ende, als dann ein Brief aus Berlin ankommt, unzustellbar, man erfährt also nicht ob eine Antwort auf Herschts Weltuntergangsbefürchtugen oder gar die Ankunft der Bundeskanzlerin ankündigend, sind Herscht und die letzte Nazi-Terroristin tot, nach einem Showdown, bei dem er schwer verwundet wird und auf den Stufen einer Kirche, zum Klang von Bachs Musik stirbt, Bachs Musik ist dann auch eines der verbindenen Elemente, kongenial von Uwe Steger gespielt, der sowohl die Musik arrangierte als auch als Engel das gesamte Stück über auf der Bühne präsent ist und immer wieder Musik von Bach auf seinem Akkordeon spielt, das Stück begleitend und auch musikalisch kommentierend, etwas über drei Stunden inkl. Pause dauerte die Aufführung, und war man erst mal in der Handlung drin, dann ließ sie einen auch nicht los, das könnte jetzt eine Empfehlung "schaut's Euch mal an" sein, die aber nach der letzten Aufführung nicht viel Sinn macht, aber ich werde auf jeden Fall mal das Buch lesen, und vielleicht gibt es ja auch mal wieder ein Neuaufnahme, die durchaus überall funktionieren würde, denn das Stück ist weder an Thüringen noch an den Osten gebunden, auch wenn es in Thüringen entstand und der Autor zu Recherchezwecken sogar einige Zeit in der Stadt lebte, die im Buch Kana heißt und als "eine Stadt irgendwo zwischen Rudolstadt und Jena" beschrieben wird und spätestens durch Erwähnung der Leuchtenburg unverkennbar ist, es soll im Buch auch erkennbare lokale Details geben, aber wie auch immer, die Handlung ist übertragbar, Nazis gibt es nicht nur im Osten.Regie: Alejandro Quintana
Bühne und Kostüme: Andrea Eisensee
Musik und Arrangements: Uwe Steger
Choreografie: Catalina Tello Aranguiz
Dramaturgie: Michael Kliefert
Florian Herscht: Franz Gnauck
Adrian Köhler: Frank Lienert-Mondanelli
Sybille Ringer: Anne Kies
Mark Ringer: Markus Seidensticker
Frau Schneider: Verena Blankenburg
Frau Burgmüller: Ute Schmidt
Jessica Volkenant: Laura Bettinger
Horst Volkenant: Michael Goralczyk
Frau Hopf: Franka Anne Kahl
Vertreter: Johannes Arpe
Ermittler 1 / Polizist: Jochen Ganser
Ermittler 2 / Ein Reporter: Rayk Gaida
Boss: Benjamin Petschke
Jürgen: Johannes Geißer
Fritz: Marcus Ostberg
Andreas: Jakob Köhn
Karin: Kathrin Horodynski
Nadir: Catalina Tello Aranguiz/Lorena Valdenegro
Rosario: Majd Barakat
Herr Feldmann: Thomas Voigt
Ein ramponierter Engel, Musiker: Uwe Steger
Chor der Kanaer: Ensemble
Fotos: Anke Neugebauer, Theater Rudolstadt
Uwe Steger als Akkordeon spielender Engel |
Showdown als Endkampf mit der letzten Nazi-Terroristin |
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