Samstag, 2. Februar 2013

Glaziologie-Workshop Teil 2 – Festigkeit des Eises

In Teil 1 wurde das Wachstum des Eises beschrieben. Jetzt geht es darum, welche Tragfähigkeit das Eis hat, welche Eisdicke notwendig zum Betreten ist.

Aus langjähriger Erfahrung haben sich die folgenden Richtwerte durchgesetzt.

1. Eisregeln der Wasserwacht des DRK [1]
  • Einzelpersonen: 5 cm
  • Personengruppen: 8 cm
  • Schlittenfahrzeuge: 12 cm
  • Personenkraftfahrzeuge: 18 cm
2. Vorschrift für den Pionierdienst des österr. Bundesheeres [2]
  • einzelne Leute mit mindestens 8 m Abstand: 4 cm
  • Infanterie in geöffneter Ordnung, einzelne Leute mit etwa 4 m Abstand: 12 cm
  • Infanterie und Kavallerie (ohne Fahrzeuge) in Marschordnung: 15 cm
  • Fahrzeuge bis etwa 3,5 t Gewicht: 20 cm
  • Fahrzeuge mit etwa 5 t Gewicht: 30 cm
3. Regelungen in Bayern: [3]
  • Allgemeine Benutzung durch die Bevölkerung: 10 cm
  • Menschenansammlungen, z.B. vor Imbiß- und Getränkebuden: 15 cm
4. Empfehlung der Schweizer Lebensrettungsgesellschaft SLRG [4]
  • vereinzelte Personen 5 cm
  • geringer Andrang 7 - 8 cm
  • grosser Andrang 10 - 12 cm
  • Fahrzeuge von 1 t 15 cm

Im Vergleich der einzelnen Regelwerke ergeben sich gewisse Unterschiede, so fällt auf, daß die militärische Vorschrift wesentlich größere Dicken für Personengruppen voraussetzt. Dabei ist aber zu beachten, daß dabei auch das Gewicht militärischer Ausrüstung einbezogen ist. Für die Allgemeinbevölkerung erscheinen die Angaben des DRK und die des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft als ausreichend. Die bayerischen Angaben fallen dabei etwas vorsichtiger aus, da es sich dabei um Vorgaben zur behördlichen Genehmigung handelt, während das DRK und die DLRG allgemeine Hinweise geben, die für das eigenverantwortliche Verhalten vorgesehen (und ausreichend) sind und auch der Erfahrung entsprechen.

Als Eisdicke wird dabei die des sogenannten (klaren) Kerneises zugrundegelegt. Schneeis (aus verfestigtem Schnee gebildetes Eis) kann wegen der geringeren Festigkeit mit der Hälfte bis dreiviertel seiner Dicke berücksichtigt werden.
Sofern jedoch der Schnee vollständig durchfeuchtet und wieder vollständig gefroren ist, kann das so gebildete Eis dem Kerneis gleichgesetzt werden. Anhaltspunkt für die Festigkeit kann die Gleichmäßigkeit der beim Bohren von Probebohrungen zum Vortrieb notwendige Kraft sein.

In [3] sind die Grundlagen der Festigkeitsbetrachtung erläutert:

Eine Eisdecke trägt Lasten
  • wegen ihrer Schwimmfähigkeit und
  • aufgrund der Hohlform, die infolge der Durchbiegung unter konzentrierter Belastung entsteht (ähnlich des Auftriebes eines Bootes)
In beiden Fällen ist die Stärke der Eisdecke dE der maßgebliche Parameter für die Tragfähigkeit. Die Belastbarkeit aufgrund der Schwimmfähigkeit hängt linear von der Eisdicke ab, während die Belastbarkeit infolge der Durchbiegung dem Quadrat der Eisdicke proportional ist.
Für den Auftrieb wird von der Dichte des Eises (917 kg/m³), das auf dem Wasser schwimmt, ausgegangen (so als ob das Eis ein Floß sei, daß bei Überlastung untergeht). Die Flächenlast in Abhängigkeit von der Eisdicke ergibt sich daraus zu
zulässige Flächenlast des Eises
mit q: zulässige Flächenlast in kg/m², dE: Eisdicke in m

Für eine Eisdicke von 0,1 Metern ergibt sich damit ein Platzbedarf einer   75 kg schweren Person von etwa 9 m², was einem durchschnittlichen Abstand von 3 Metern zwischen zwei Personen entspricht.

In der folgenden Tabelle sind die Werte für die statische Belastung einer Eisdicke für unterschiedliche Eisdicken zusammengestellt.

Eisstärke in cm   10     15     20     30  
Zulässige Belastung in N/m² 81 121 163 244
Flächenbedarf pro Person (75 kg) in m² 9 6 4,6 4
erforderlicher mittlerer Abstand zwischen Personen in m  3 2,5 2,1 1,7

Begrenzte Teilflächen einer Eisdecke  können erheblich höher (auf Durchbiegung) belastet werden. Es ist aber immer zu beachten, dass durch die zulässige Belastung von Teilflächen die Höchstbelastung der gesamten Eisdecke nicht überschritten wird.

Dabei erhöht sich die zulässige Flächenlast bzw. die notwendigen Abstände verkleinern sich etwa auf die Wurzel aus den oben berechneten Abstandszahlen.

Eisstärke in cm   10     15     20      30  
Zulässige Belastung in N/m² 245 294 343 431
Flächenbedarf pro Person (75 kg) in m² 2,8 2,3 2 1
erforderlicher mittlerer Abstand zwischen Personen in m  1,7 1,5 1,4 1,3

In Wikipedia wird auf eine kanadische Formel verwiesen, die zur Berechnung der Tragfähigkeit von Eisstraßen angewendet wird.
zulässige Einzelmasse
mit m: Masse von Lasten wie z.B. Fahrzeugen, dE: Eisdicke in cm
Anmerkung: Im Wikipedia-Artikel steht in der Formel statt des hier angegebenen Wertes 3,5 der Wert 7,03. Im kommentierten Quelltext wird jedoch erwähnt, daß auch in Kanada der höhere Wert kritisiert wird und stattdessen 3,5 bis 4 empfohlen werden. Deshalb ist hier die 3,5 angegeben. Die mit der Formel ermittelten Werte stimmen gut mit den Erfahrungswererten des DRK überein:)

Es ist zu unterscheiden zwischen Lasten, die das Eis dauern tragen kann und solchen, die nur zeitweilig auftreten dürfen. Bei  kurzzeitiger Belastung ist das Eis erheblich tragfähiger.

Bei Belastung des Eises entstehen Risse entsprechend folgender Grafik:
Bildung von Rissen [3]
Die sternförmig von der Last ausgehenden Radialrisse sind ungefährlich. Bei weiterer Erhöhung der Last entstehen tangentiale Risse, die sich in konzentrischen Kreisen schließen. Diese Tangentialrisse sind Zeichen einer akuten Gefahr. Der Durchbruch des Eises erfolgt dann nach einiger Zeit ohne weitere Erhöhung der Last. Der Bereich der Rissbildung ist bei tangentialen Rissen daher sofort zu verlassen.

Weitere Unrsachen von Rissen sind Längenänderungen des Eises infolge von Temperaturunterschieden. Das Eis hat an der Unterseite immer null Grad und kann an der Oberseite wesentlich kälter sein. Dadurch ergeben sich thermisch bedingte Spannungen, die sich in Rissen ausgleichen. Auch Änderungen des Wasserstandes führen zu mechanischen Spannungen, die durch Risse ausgeglichen werden.


Risse auf dem Eis sind also eine ganz normale Erscheinung. Die quer über das Eis laufenden Risse – die sich ggf. mit Wasser füllen, wenn sie nicht ohnehin nur winzige Risse sind – frieren sofort wieder zusammen und stellen keine Gefahr dar.


(wird fortgesetzt...)

Literatur:

[1] Wasserwacht des DRK: Eisregeln
[2] All.Pi.D., H.Dv. 316: Pionierdienst aller Waffen, (download)
[3] Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft: Beurteilung der Tragfähigkeit von Eisdecken. München, 1991 (download)
[4] Röthlisberger, Hans ; Schweizerische Lebensrettungs-Gesellschaft SLRG (Hrsg.): Tragverhalten von Eis. Entscheidungshilfe für die Freigabe/Sperrung von Eisflächen auf natürlichen Gewässern. (download)

2 Kommentare:

  1. Von mir auch noch eine Frage:
    Wie verhält sich die Tragfähigkeit des Eises von fließenden Gewässern? Ist dieses bei ausreichender Dicke ebenso belastbar?

    Wo wir gerade beim Fluss sind: Beim beteten von Eis immer auf Zuflüsse achten.

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    1. Die Tragfähigkeit des Eises dürfte bei jeweils derselben Eisdicke auf fließenden Gewässern dieselbe sein wie auf stehenden Gewässern. Allerdings werden in den Richtwerten, wenn sie überhaupt auf Fließgewässer eingehen, zusätzliche Sicherheitsfaktoren eingerechnet. So schreibt z.B. die Wasserwacht des DRK "Fließende Gewässer sollten erst 15-20cm betreten werden!".

      Die Frage ist eher, wie gleichmäßig ist die Eisdicke auf Flüssen, wie erfolgt die Eisbildung.

      In "Eisbildung und Eisstärkenvorhersage in Schifffahrtskanälen" steht dazu, "sehr langsam fließende Gewässer verhalten sich hinsichtlich der Eisbildung ähnlich den stehenden Gewässern, als Grenzwert wird eine Fließgeschwindigkeit von 0,6 m/s angegeben ("quasistatische Eisbildung")."

      Sofern das Fließgewässer gleichmäßig durchgekühlt ist (bei turbulenter Strömung gibt es dort nicht die 4-Grad-Schichtung) ist der Effekt von Strömungen unter der Eisoberfläche sicher geringer als wenn z.B. in stehenden Gewässern z.B. warmes Grundwasser einströmt.

      Aber dazu wird es demnächst noch einen weiteren Teil ("Löcher im Eis") geben.

      Davon abgesehen: Flüsse sollten vor dem Betreten schon deshalb mit erheblich mehr Sorgfalt geprüft werden, weil man beim Einbrechen dort erheblich stärker gefährdet ist. Gerät man durch die Strömung unter das Eis, ist Rettung faktisch unmöglich.

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