Sonntag, 5. April 2020

Der Baum des Lebens – ein Hungertuch aus Haiti

Zum Beginn der Karwoche kam mir wieder das MISEROR-Hungertuch in den Sinn, von dem ich eine Replik im Gemeindesaal der Körbelitzer Kirche hängen sah. Das Bild des haitianischen Malers Jacques Chéry stammt aus dem Jahr 1982, damals war Haiti eine Diktatur. Betrachtet man die im unteren Bilddrittel dargestellten Szenen, die anders als der Rest des Bildes keine biblischen Geschichten, sondern Flucht mit Booten und Militärgewalt zeigen, dann ist das Bild so aktuell wie vor den knapp vierzig Jahren seit dessen Entstehung. Auch wenn es uns in Deutschland gut geht: auf der Welt ist es insgesamt nicht viel besser geworden. Nur das Christus jetzt mit den Menschen in den heutigen Kriegen leidet und mit ihnen in den Booten auf dem Mittelmeer unterwegs ist.

Jaques Chéry: The Tree of Life. 1982
Acryl auf Leinwand, ca. 2 x 3 Meter

Die Hilfsorganisation MISEROR gibt seit 1976 bei Künstlern der sogenannten Dritten Welt Kunstwerke auf großformatigen Tüchern in Auftrag. Damit nimmt sie einen alten kirchlichen Brauch aus der Zeit um das Jahr 1000 auf, auf großen Tüchern Bildmotive aus der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Testaments darzustellen. Damit wurden die biblischen Geschichten von der Schöpfung bis zur Wiederkunft Christi der des Lesens meist unkundigen Gemeinde die Heilsgeschichte in Bildern vor Augen geführt, in einer Art »Armenbibel«.

Die modernen Bilder laden, ganz in der Tradition der mittelalterlichen Tücher, zur Betrachtung des Leidens Christi ein. Neu daran ist, dass eine Verbindung mit dem Hunger und der Armut, aber auch dem kulturellen und spirituellen Reichtum der Menschen in den Ländern des Südens hergestellt wird.

MISEREOR begann diese Zusammenarbeit in einer Zeit, als die Werke von KünstlerInnen aus dem Süden ihren Platz noch in Völkerkundemuseen hatten. Kunst ist jedoch mehr als schöner Schein. Sie ist Element der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens. Sie entspringt dem tiefsten Wesen des Menschen und gründet auf einem Schatz allgemein verständlicher Muster. Deshalb kann sie universal verstanden werden. Viele der KünstlerInnen kennen beides, den Süden und den Norden, und konnten so zu Brückenbauern zwischen ihrer eigenen und unserer Kultur und Spiritualität werden.

Das Hungertuch aus Haiti orientiert sich an den Bibeltexten der fünf Fastensonntage. Vom Künstler wurden diese Texte mit Darstellungen des Tages- und Weltgeschehens verwoben. Auf der unteren Ebene zeigen die Bilder Szenen der Heimatlosigkeit, der Friedlosigkeit und der Orientierungslosigkeit. Christus überwindet in den Bildmotiven der mittleren Ebene das Böse. In der oberen Ebene sehen wir Bilder der Hoffnung, der neuen Schöpfung und der uns allen verheißenen Tischgemeinschaft. – Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung kennzeichnen in der Nachtfolge Jesu die Ausrichtung MISEREORs.

Die linke senkrechte Bildfolge zeigt Jesus als den neuen Adam (Mitte), der die Versuchung in der Wüste bestanden hat (Mk 1, 13) und im Frieden mit den wilden Tieren lebt. In dieser Überwindung erweist er sich als der »Menschensohn« (Mk 9, 9). Der Künstler malt die Versuchung zu Reichtum, Vergnügen und Macht in bildhaftsymbolischer Art: Die Versuchung Jesu wiederholt sich in unserem Leben.

Mit den Zehn Geboten verweist der Künstler auf den Bund zwischen Gott und Israel. Er bringt sie mit den Menschenrechten, die oft genug mit Füßen getreten werden, in Verbindung. Die »Sintflut« (unten) als Bedrohung des Menschen ist nicht zu Ende. Konkret wird das Recht des Menschen auf Heimat missachtet. Jesus ist mitten unter den Heimatlosen.

Die mittlere senkrechte Bildfolge zeigt Jesus gleich der Schlange, die Mose in der Wüste erhöht hat (Joh 3, 14-21), am Kreuz hängend. Der Künstler hat einen Kreuzesbaum gemalt, dessen Wurzeln tief in das Dunkel der »Sintflut« reichen. Dazwischen keimen die Samen als Zeichen der Hoffnung. Der Künstler bringt das Leiden und Opfer Christi in Verbindung mit der Szene im Halbdunkel des Wurzelwerkes. Es ist derselbe Christus, der am Kreuz hängt, der im Boot der Flüchtlinge sitzt, der unter den Knüppeln der Soldaten zusammengebrochen ist.

Der siebenfarbige Regenbogen umspannt das Gesamtbild. Das dunkle Blau wiederholt sich im Wasser der Sintflut. Dieser Regenbogen ist Zeichen für das Ja Gottes zum Leben des Menschen und zur ganzen Schöpfung: die Erde ist Wohnraum für alle Menschen (Gen 9, 8-15).

Die rechte senkrechte Bildfolge zeigt die Menschen, die in die Gefangenschaft nach Babel geführt wurden (2 Chr 36, 14-16). Die einen sitzen am Fluss und weinen; die Mehrheit arbeitet an einem turmartigen Berg, der aus dem Wasser ragt. Sie versuchen den Gipfel zu erreichen und benutzen dabei rücksichtslos ihre Mitmenschen als Trittbretter.

Jesus protestiert gegen den Tempelmarkt (Joh 2, 13-22). Er weist im Bild der Tempelreinigung auf die Tischgemeinschaft, zu der sich Menschen aller Rassen versammelt haben: sie ist Maßstab für jede brüderliche und schwesterliche Gemeinschaft.

(Text: Ausstellungskatalog einer Ausstellung der Hungertücher)

Der Künstler:
Jacques Chéry wurde 1928 in Cap Haitien/Haiti geboren und lebt seit den 60er Jahren in der Hauptstadt Port-au-Prince. Ehe er in der Lage war, sich und seine Familie durch seine Kunst zu ernähren, arbeitete er unter anderem als Friseur und als Tankwart. Mit 17 Jahren besuchte er für ein Jahr die Schule »Centre d‘Art« in Cap Haitien. Er zählt in Haiti zu den bekanntesten »primitiven« Künstlern, deren optimistische und ausdrucksstarke Kunst in der Frische ihrer Bilder und ihrem außergewöhnlichen Sinn für Formen und Farben begründet ist.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen