Die Kisten mit Milben, in denen der Milbenkäse reift |
Würchwitz ist inzwischen zwar ein Ortsteil der Stadt Zeitz, ansonsten aber ein kleines Dorf mit kleinen alten Häusern. In eí nem davon, dem letzten Haus am nordöstlichen Ortsrand, befindet sich die kleine Manufaktur, in der Helmut Pöschel die bereits über 500 Jahre nachweisbare Tradition dieser ungewöhnlichen Käseherstellung fortführt. Feste Öffungszeiten der Manufaktur gibt es nicht. Am besten man fragt vorher, entweder über die Webseite oder telefonisch, oder man macht es wie wir und fährt auf gut Glück los und hofft, dass jemand anzutreffen ist. Wir hatten Glück und wurden dann auch sehr herzlich im Haus des Milbenkäses begrüßt.
Der Chef persönlich war vor Ort – und das war wirklich ein Glückstreffer, schließlich verstand sich Helmut Pöschel bestens darauf, alles, wirklich alles über seinen Käse und seine Milben zu berichten. Als erstes führte er uns in das „Allerheiligste“ der Käseproduktion: eine kleine Kammer, kaum drei oder vier Quadratmeter groß und mit unverputzten Sandsteinwänden. Sofort schlägt uns starker Ammoniakgeruch entgegen. „Das sind die Ausdünstungen der Käsemilben“, erklärte Pöschel, „die scheiden Ammoniak aus, wenn sie den Käse fressen“. Dann fällt der Blick auf alte Holzkisten, die auf den Holzregalen stehen. Zwei davon öffnet Helmut Pöschel. In einer ist erst mal nur eine gelbliche Masse zu sehen, ähnlich wie Sand, aus der die Umrisse einiger Käsestücke ragen. „Das sind etwa 250 Millionen Milben“, erklärt Pöschel.
Daß das wirklich eine lebendige Masse ist, merkt man, als man auf Pöschels Aufforderung mit den Finger eine kleine Kuhle hinein drückt und sich diese nach kurzer Zeit wieder begradigt. Und als Pöschel aus der Milbenmasse, die übrigens eine trockene Konsistenz hat, einige Käse hervorholt und aufrecht hinstellt. An diesen Käsestücken haftet eine dicke Schicht der gelblichen Masse, die sich nach und nach löst und zurück in die Kiste fällt. Aber nicht so wie etwa wie anhaftendes Mehl (mit dem die Milben übrigens gefüttert werden), sondern als ob sich da etwas aktiv fallen lässt. Das sieht aus, als wäre es eine spezielle Art solcher „Zauberknete“, wie sie für Kinder in unterschiedlichsten Sorten angeboten wird. Und apropos Mehl: „Die Milben ernähren sich außer von Käse auch von Roggenmehl“ erklärt Pöschel und streut etwas davon über die Milben. Einige Zeit später sind diese Mehlstieben wie in die Milbenmasse hineingesogen. „Riechen Sie jetzt mal an ihrem Finger“, sagt Pöschel, „die Milben verspritzen, wenn sie sich gestört fühlen, Zitronensäure“. In der Tat haftet am Finger jetzt ein leicht zitroniger Geruch. Das alles trägt zur Fermentation des Käses bei.
Die Milben sind nur drei Zehntel Millimeter groß, zu klein, um sie mit bloßem Auge einzeln zu betrachten. Helmut Pöschel gibt eine Messerspitze voll Milben auf einen gläsernen Objektträger und legt diesen unter ein Mikroskop. Nun sieht man deutlich die Einzelheiten der sich unter dem Mikroskop bewegenden Milben, sieht Beine, Freßwerkzeuge, einzelne Haare. Nicht in der klaren Schärfe der Bilder aus dem Elektronenmikroskop, die Pöschel auf seiner Webseite hat. Aber man erkennt deutlich, daß es sich um lebende Organismen handelt.
In einer anderen Kiste befinden sich eine größere Menge voll ausgereifter Käsestücke. Von den großen, noch relativ frische Käsetalern (augenzwinkernd als „Würchwitzer Himmelsscheibe“ bezeichnet) und den kleineren, voll ausgereiften, und einer dritten Sorte, mit Holunderblüten im Inneren und als „Lutherkäse“ bezeichneten (Luther soll tatsächlich solch Käse gegessen haben) gibt es kleine Kostproben. Der Käse schmeckt überraschend gut. Der frische ähnelt mildem Harzer, der alte, reife eher kräftig aromatischem Schweizer Käse. Dieser ist als dünne Scheibe geschnitten bernsteinfarben durchscheinend. Und der Lutherkäse hat ein leicht frisches Aroma. Ein sehr interessantes Geschmackserlebnis. Käseliebhaber sollten sich das nicht entgehen lassen.
250 Millionen Milben und etwas Käse |
Käsemilbe in Großaufnahme |
„Noch eine andere Sorte Milben kann die Kisten bevölkern“, sagt Pöschel, „das sind Raubmilben, die die Käsemilben fressen wollen“, und holt aus einer Ecke einer anderen Kiste ebenfalls eine Messerspitze voll. „Die sind größer als die anderen und schneller. Geben Sie mal ihre Hand her“, sagt er und gibt diese Milben darauf. In der Tat kann man diese besser mit bloßem Auge sehen – und sie fangen gleich an wegzukrabbeln. „Solche Milben kann man im Fachhandel auch als biologische Schädlingsbekämpfungsmittel bekommen, die man dann als Nützlinge im Gewächshaus einsetzt“. Hier dürften sie eher unerwünscht sein, aber für das biologische Gleichgewicht muß dann wohl der Käsemeister sorgen.
Raubmilben (mit bloßem Auge sichtbar) |
Helmut Pöschel kann scheinbar endlos über seinen Milbenkäse, dessen Geschichte, Inhaltsstoffe und Eigenschaften erzählen. Sei es über die Fortpflanzung der Milben („Die haben einen Stachel, der aber anders als beim Menschen nach hinten zeigt – Sex machen die Po an Po.“) oder über die Vermehrung („Wenn die Milbeneier in der Mutter geschlüpft sind, fressen die die Mutter auf. Wir haben hier Kanibalismus“). Oder er er spricht über die aphrodisierende Wirkung einiger Produkte der Milben, über die gerade geforscht werde. („Eßt mal von dem Käse, ihr werdet das dann drei Stunden später merken“).
Und er berichtet über die Geschichte der Käseproduktion, die in mehreren Familien des Dorfes von den alten Frauen ausgeübt wurde. Wenn eine der Frauen starb, wurde quasi als Erbe auch der Milbenvorrat weitergegeben. Da steckt dann auch die Bewahrung dörflicher Tradition drin, der Bewahrung von bäuerlicher Tradition, die einfach der Selbstversorgung diente. Ab und zu sollen sich auch einige der uralten Käse in den hintersten Winkeln alter Häuser gefunden worden sein, einen davon, den ältesten, hat Pöschel in seinem Tresor.
Daß er seinen Käse trotz der anhaftenden Organismen europaweit vermarkten kann, freut Helmut Pöschel sichtlich. Er weiß von einem französischen Käse, in dem traditionell Maden sein müssen – dieser darf nicht in ander EU-Länder eingeführt werden. Auf die Frage der dortigen Bauern, wie er das für seinen Käse erreicht habe, riet er „macht Eure Maden kleiner, daß man sie nicht mehr sieht“.
Auch Künstler haben sich inzwischen für die winzigen Käseproduzenten interessiert. In Vitrinen sind viele Ausstellungsstücke zu sehen. Graphiken der Milben (eine sehr deutlich als männliche Milbe erkennbar), Tonfiguren, Plüschmilben. Und unübersehbar auf einer Wiese im Ort: eine riesige Milbe aus Cararara-Marmor. Mit einem nicht unwichtigen Detail: einer faustgroßen Öffnung im Sockel, unter dem Hinterteil der Milbe. „Dort liegt ab und zu ein Käse drin, damit die Leute ihn auch sehen und riechen können“, sagt Pöschel. Bei unserem Besuch lag keiner drin. Aber die Öffnung war leicht bräunlich und roch nach Ammoniak.
Helmut Pöschel erwies sich als sehr guter Geschichtenerzähler, der viel über seinen Käse und die Milben und das Leben philosophieren kann. Wie viel man von all den Geschichten rund um den Käse glauben mag (manche klangen beinahe unglaublich) kann ich selbst nicht sagen, und auch daß am 1. April das traditionelle Hoffest stattfindet, mag ein Zeichen dafür sein, nicht wirklich alles ernst zu nehmen. Tatsache aber ist: wir haben die Milben selbst gesehen (und gerochen) und den Käse gekostet (auch welchen mit nach Hause genommen). Und deshalb die Empfehlung: probiert ihn selbst mal. Und am besten laßt Ihr Euch das alles vor Ort selbst erzählen.
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