Es war das wohl exklusivste Theaterstück, das ich bisher erleben durfte: eine ganzes Land, das schönste noch dazu, an einem für nur vier Personen gedeckten Tisch. In einem 20-Fuß-Übersee-Container auf dem Schönebecker Markt.
Das Schönste Land der Welt vom Puppentheater Magdeburg
Spiel: Luisa Grüning, Kaspar Weith
Dramaturgie: Miriam Locker
Regie: Leonhard Schubert
Ausstattung: Jonathan Gentilhomme
Musik, Sounddesign: Bernhard Range
Technischer Support: Richard Barborka
Mit verschwörerischen Blick lassen Luisa Grüning, Kaspar Weith als Gastgeber ihre Besucher in den unscheinbaren Container mit dem roten Vordach ein. Vorab gibt es noch den Hinweis, bitte keines der kleinen Teile anzufassen. Drinnen: eine gemütliche Stube, ein langer Tisch mit vier Stühlen, der Tisch gedeckt mit vier Mokkatassen. Bitte Platz zu nehmen! Für jeden der Gäste gibt es einen Kopfhörer, es wird dunkel und die Reise in die Geschichte konnte beginnen. Eine Reise, angeregt durch das Leben von Robert M. Schernikau (1960 – 1991), der als Kind zusammen mit seiner Mutter die DDR in einem Kofferraum Richtung Westen verließ, als 16jähriger Kommunist wurde, von 1986 bis 1989 in Leipzig Literatur studierte und im September 1989 zu einem der letzten Einwanderer aus der BRD in die DDR wurde.
"Es war einmal ein Land. Das hatte böses getan und wurde dafür geteilt. In einen großen Teil, der reich war. Und in einen kleinen, in dem die Arbeiter und Bauern regierten". Wie ein Märchen beginnt das Stück, das mit eingespielten O-Ton-Zitaten von Zeitzeugen und Soundschnipseln erzählt wird. Dramaturgin Miriam Locker sammelte die Erinnerungen von DDR-Bürgern aus Magdeburg und auch aus Schönebeck – woher der in Magdeburg geborene Autor in gewissen Sinn stammt: "Gezeugt wurde er in Schönebeck", berichtete Locker von einem Gespräch mit Schernikaus Mutter, "geboren ist er in Magdeburg und gestorben in Berlin".
Für radiophone Besucher wie mich wäre allein schon das bloße Hören der Geschichten interessant gewesen, die wie ein Radiofeature oder Hörspiel klangen, bei dem die Bilder dann eben im Kopf entstehen. Berichte wie "Wir haben nackt an der Ostsee gebadet" oder Erzählungen über den Alltag in der DDR mischten sich mit Geschichten, wie sie wohl der Phantasie des Autors Schernikau entsprangen. Wie die von der Bananendruckerei, in der Bananen künstlich hergestellt wurden. Aber auch Fluchtgeschichten gab es, vom Verlassen des Landes über die ungarische Grenze. Und Berichte von der Enttäuschung, als dann kurz nachdem man es geschafft hatte, die DDR-Grenze plötzlich für alle offen war.
In das fast vollständige Dunkel hinein beleuchten die beiden Puppenspieler einzelne Szenen, die mit winzigen Modellfiguren aufgebaut sind, fügen der erzählten Geschichte Bilder hinzu, scheinen manchmal auch selbst zu staunen über Szenen und Stimmen. Am Anfang steht eine Miniaturversion des Schauspiel-Containers, die auf einem Marktplatz steht. Später gibt es einzelne Szenen, die jeweils angeleuchtet werden – den Puppenspielern genügen kleine LED-Lampen als Bühnenspot. Ganze Scharen von Trabis fahren auf dem Tisch, angetrieben von einem aus der Dunkelheit hervorgezauberten Laufband, auf dem wenig später die innerdeutsche Grenze am Blick vorbeizieht, mit Wachturm und Stacheldraht. Die eine Hälfte der Besucher sitzt dann im Westen, die andere im Osten. Geschickt werden Lichter so gesetzt, dass man eigentlich nur seine eigene Seite sieht, als Schatten aber auch die andere.
Das Spiel endet mit der Wiedervereinigung und einem Zitat Schernikaus: "Das schönste Land der Welt? Das sind viele Länder in einem". Man kann es als eine vorweggenommene Vision für Europa verstehen.
Nein, das Stück ist weder platte Ostalgie von einem besten Land der Welt noch Geschichtsstunde. Sondern eine eigene Geschichte, in der sich ein vom Lauf der Zeit verklärter Blick mit Fiktion, Assoziation und Phantasie mischt.
Als das Spiel vorbei ist, öffnen sich die Türen des Containers langsam zur Elbeseite des Marktes hin. Die Realität löst die Phantasie ab. "Haben Sie eigentlich den Platz der ersten Szene erkannt?" fragt Miriam Locker. "Wir nehmen da nicht irgendwelche Häuser, sondern bauen für jeden Ort, an dem wir unseren Container aufstellen, die Ansicht des Ortes nach". Mir kam die Szenerie zu Beginn zwar irgendwie vertraut vor, aber erst jetzt sehe ich es: tatsächlich, der Blick in die Miniaturwelt zeigt genau den Schönebecker Markt mit dem Container darauf. So ist das schönste Land der Welt eben auch: genau hier.
Vor Beginn des Stückes wartete ich neben dem Container und sah dabei zwei alte Männer, wie man sie hier manchmal ihr Bier trinkend auf den Bänken sitzen sieht, am Container vorbeikommen. "Was? Das schönste Land der Welt?", sagte der eine, "Aber doch nicht hier", antwortete der andere. Irgendwie passend, so als wären die beiden hier her herbestellt worden. Ich bin mir sicher, auch sie hätten etwas über ihr eigenes schönstes Land der Welt erzählen können. Vielleicht wäre das ein Land gewesen, in dem sie einst Motoren oder Traktoren bauten.
Der Container stand von Sonnabend bis Dienstag auf dem Markt. Täglich gab es drei Vorstellungen für je vier Personen. Am Ende werden es dann knapp 50 Schönebeckerinnen und Schönebecker gewesen sein, die sich in diesen Rückblick mitnehmen ließen, in die Phantasiewelt eintauchten. Einige davon vielleicht auch doppelt, denn als ich mich mit einer auf den Beginn der vorherigen Vorstellung wartenden Frau unterhalte sagt diese "ich warte noch auf meine Mutter, die wollte das unbedingt noch einmal sehen".
Es mag Zufall sein: am Sonnabend, dem 9. April um 18:05 Uhr wird im Deutschlandfunk Kultur ein Feature über Robert M. Schernikau gesendet. Es geht auch dort: um das schönste Land der Welt.
Und im September 2021 hatte Grit Warnat in der Kulturseite der Volksstimme einen schönen Beitrag über das Stück des Puppentheaters geschrieben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen