Einen Tag nach dem Gedenktag an die Pogrome des 9. November 1938 hielt die niederländische Historikerin Afke Berger einen Vortrag über eines der jüdischen Opfer aus Schönebeck, die 1928 geborene Ruth Weile. "Sie war ein fröhliches Kind", konnte sie anhand der Fotos und von Augenzeugenberichten feststellen.
Die Beschäftigung mit dem Leben von Ruth Weile war ein Stück weit ein Zufall: "Zu Beginn meines Studiums beschäftigte ich mich mit jüdischen Flüchtlingen und kam in dem Zusammenhang mit einer alten Frau in Kontakt, die mir ein Fotoalbum gab. Es war dies das Fotoalbum von Ruth Weile. Diese hatte es ihrer niederländischen Freundin zu Aufbewahrung gegeben, bevor sie von Amsterdam aus in das Sammellager Westerbork transportiert wurde".
Aus dem Interesse an dem Album und dessen Geschichte wuchs eine lange währende Beschäftigung mit Ruth Weile und ihrer Familie. Auch wenn sie sich inzwischen beruflich in einem Forschungsinstitut mit anderen Themen beschäftigt, so lässt das Thema die Niederländerin nicht los. Schon am folgenden Tag würde sie für eine weitere Recherche nach Polen weiter reisen. Das Fotoalbum findet sie auch aus historischer Sicht hinteressant: "Wir haben hier einen seltenen Fall, dass ein Fotoalbum erhalten blieb, zu dem auch die Hintergründe und Personen recherchiert werden konnten". Personen, die nicht nur in Schönebeck lebten, sondern auch im benachbarten Calbe, allesamt Familien aus dem Bürgertum, ganz normale Deutsche, Geschäftsinhaber und angesehene Bürger.
Schaut man in das Album, so sieht man Fotos, wie sie in jedem Familienalbum zu finden sind, Familienfotos, Kinder, Freundinnen. Sparsam beschriftet, oft steht nur ein Datum oder ein Jahr drunter. "Das Album hatte Ruth Weile erst in Holland angelegt", erklärte Afke Berger, "sie ließ sich in Briefen von ihren Eltern Fotos schicken, schickte auch welche von sich zurück, das war ihre Verbindung zur Heimat". In ihrem Vortrag ließ sie auch die Bekannten und Verwandten der Familie Weile anhand von alten Fotos und Dokumenten wieder lebendig werden, die etwa die Familie Löwenstein aus Calbe. "Sie waren alle in Schuhen und Kleidung unterwegs", wie man damals sagte.
Zu den Dokumenten gehörten aber auch Fotos aus der Zeit vor Hitlers Machtantritt, lange Schlangen von Arbeitslosen vor einer Wand, an der groß "Wählt Hitler!" steht, später das Magdeburger Rathaus mit Hakenkreuzfahnen, Fotos der Bücherverbrennung oder die Kopie einer Lokalzeitung mit dem Aufruf "Kauft nicht bei Juden". Fotos zerstörter Geschäfte in Schönebeck nach den Pogromen 1938 oder judenfeindliche Karikaturen und Schmähgedichte aus Schulbüchern, bei denen einem dann doch der Atem stockt, wenn es etwa heißt "Nun wird es in den Schulen schön / Denn alle Juden müssen gehn / Die großen und die Kleinen / Da hilft kein Jammern und kein Weinen / und auch nicht Zorn und Wut / Fort mit der Judenbrut".
Spätestens die Novemberpogrome veranlassten viele Juden, die Flucht aus Deutschland zu versuchen oder wenigstens die Kinder zu retten. "Ruth Weile lebte dort das Leben eines Flüchtlingskinds", sagte Afke Berger. Mit ihrer Geschichte über das gefundene Fotoalbum ist sie im Abstand mehrerer Jahre bereits zum dritten mal in Schönebeck und hier auch in Schulen unterwegs. "Es sind dann immer neue Generationen von Schülern zu erleben", sagt sie. "Als ich gestern in einer Klasse mit 14- bis 15jährigen Schülern war, so alt wie Ruth Weile, wurde diesen Schülerinnen und Schülern erst richtig vorstellbar, was damals den Juden, was vor allem den jüdischen Kindern passierte". In Zeiten, in denen es kaum noch lebende Augenzeugen des Holocaust gibt, wird es immer wichtiger, auch solche Formen der Wissensvermittlung zu nutzen und Dokumente wirken zu lassen.
Apropos Dokumente: "was wird später mit dem Fotoalbum", wollte einer der Besucher wissen. "Das werde ich wohl einem Museum geben", sagt Afke Berger, und berichtet dann davon, dass es einem zweiten Zufall zu verdanken ist, dass es das Album überhaupt noch gibt. Sie hatte das Album damals der alten Dame wieder zurückgegeben. "Als diese dann verstarb und die Wohnung ausgeräumt wurde, fand einer der Arbeiter in dem alten und unscheinbaren Album einen Zettel mit meinem Namen und meiner Adresse".
Ihren Vortrag beendete Afke Berger mit einem Foto des Schönebecker Holocaust-Mahnmals, auf dem alle Namen der Schönebecker Juden zu lesen sind. "Ich habe versucht, einen kleinen Teil zur Erinnerung beizutragen". Claudia Sokolis-Bochmann, Pfarrerin im Schönebecker Schalomhaus, sagte dazu "es braucht Menschen, um anderen Menschen ihren Namen zurückzugeben".
Afke Berger zeigt das Fotoalbum: einfache kleine schwarzweiße Fotos, Passbilder, Postkarten. Erinnerungen, die sich Ruth Weile von ihrer Familie ins holländische Exil senden ließ. |
Familenfotos aus einem ganz normalen bürgerlichen Leben. |
Ein Bittbrief an das niederländische "Comite voor Joodsche Vluchtelingen", um eine Ausreise der Familie Weile in die Niederlande zu erreichen. |
Tödliche deutsche Gründlichkeit bis zum Ende: in einer Transportliste ist Ruth Weiles letzte Lebensstation dokumentiert. In der letzten Zeile steht: WEILE, Ruth, geb 25.6.28, gest. 10.9.43. |
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